Sanismus: Eine oft übersehene Form der Diskriminierung

Was ist Sanismus?

Sanismus beschreibt die Diskriminierung von Menschen mit tatsächlichen oder vermuteten psychischen Störungen. Ähnlich wie Rassismus führt Sanismus zur systematischen Unterdrückung und Ausgrenzung bestimmter Gruppen von Menschen. Der Begriff wurde von Michael L. Perlin bekannt gemacht und beschreibt die Vorurteile, die Menschen mit (zugeschriebenen) psychischen Erkrankungen erfahren.

Sanismus manifestiert sich in verschiedenen Formen, darunter medialen Darstellungen, Sprachgebrauch, Integration & Ausschlussverhalten und Sozialpolitik. Diese Diskriminierung kann zu sozialer und wirtschaftlicher Ausgrenzung führen, etwa durch den Ausschluss von Beschäftigung, Bildung und Wohnmöglichkeiten. Häufig werden berechtigte Interessen und Bedürfnisse von Betroffenen abgewertet, indem ihr Verhalten fast ausschließlich über die Störung erklärt wird.

Was ist überhaupt Diskriminierung?

Diskriminierung bezeichnet allgemein die Benachteiligung und Einschränkung aufgrund von der Zuordnung zu Gruppen, die historisch und gesellschaftlich benachteiligt und ausgegrenzt werden.

Sanismus erkennen

Sanismus ist oft nicht sofort erkennbar, da er tief in gesellschaftlichen Strukturen und Vorurteilen verwurzelt ist. Hier sind einige Indikatoren, die helfen können, Sanismus zu erkennen:

  • Nennen der Störung gefolgt von negativen Konsequenzen: „Ich meine, bei dir toxisch-narzisstische Muster wahrzunehmen, deswegen werde ich nicht mehr mit dir arbeiten.“
  • Abwertung durch Diagnosen: „Weil du depressiv bist, frage ich gar nicht mehr, ob du mitmachen möchtest.“
  • Zuschreibung von "typischen" Eigenschaften bei Menschen, von denen angenommen wird, dass sie eine dauerhafte psychische Einschränkung haben: „Der hat seine Gefühle nie im Griff, ist sehr fragil - am Besten ignorieren.“ - diese Zuschreibung muss nicht immer verbalisiert werden. Oft sind es einfach Gedanken und Bewertungen.

Solche Zuschreibungen aktivieren gesellschaftlich verankerte Vorurteile, die dazu führen, dass Menschen auf (vermeintliche) psychische Probleme reduziert und nicht mehr ernst genommen werden. Begriffe wie z.B. "unberechenbar", "gefährlich", "irrational", "hysterisch" oder "fragil" reduzieren Empathie und schaffen Distanz. Damit geht Entmachtung einher, weil nicht mehr zugehört wird. Dabei geht es nie nur um die direkt Betroffenen, sondern verunsichert viele Menschen mit (zugeschriebenen) psychischen Diagnosen und Problemen.

Diese Zuschreibungen passieren häufig auch unbewusst und führen dann zu fast surreal anmutenden Ängsten. Als ein IT-Mensch einer NGO einmal sanistische Zuschreibungen bekam, kam danach die Angst auf, die Person könne ja alle Passwörter ändern. Das war komplett an der Realität und dem Menschen vorbei, verstärkte aber die Ausschluss-Tendenzen, da mit Sanismus eben die Aktivierung von entsprechenden Vorurteilen und Ängsten einhergeht - wie bei allen Diskriminierungsformen. Auch darüber entfaltet Diskriminierung eine Macht, die von bloßen Beleidigungen und Kränkungen in der Regel nicht ausgeht.

Und genau deswegen braucht es Selbstreflexion und Austausch in Gruppen - nicht nur über Sanismus, auch über andere Diskriminierungsformen. So können wir gemeinsam mit anderen unsere Vorurteile einbringen und miteinander reflektieren. Und dann können wir unsere Sprache und die dahinter liegende Haltung Stück für Stück verändern.

Sanismus bzw. Diskriminierung allgemein begegnen

Nicht die Täter*innen brauchen Schutz vor dem Vorwurf der Diskriminierung, sondern die Betroffenen vor persönlicher und systemischer Entmachtung. Denn Diskriminierung funktioniert, anders als Beleidigungen oder Kränkungen, über Machtverschiebungen durch Zuweisung zu gesellschaftlich weniger mächtigen Gruppen. Hier sind einige Maßnahmen, die helfen können:

  • Zivilcourage zeigen: Sprechen Sie sich gegen sanistische Äußerungen und Handlungen aus und unterstützen Sie Betroffene aktiv.
  • Bildung und Sensibilisierung: Schulen, Universitäten und Arbeitgeber sollten Programme zur Sensibilisierung für Sanismus und psychische Gesundheit anbieten.
  • Unterstützungsnetzwerke: Der Aufbau von Peer-Beratungsprogrammen und psychischen Gesundheits- und Beratungsangeboten ist essenziell.

Es geht nicht darum, Menschen sprachlos zu machen, sondern eine nicht-diskriminierende Sprache zu nutzen, die allen Menschen Teilhabe und Beteiligung ermöglicht. Es geht nicht darum, Sprache zu verbieten, sondern die mit ihr verbundenen Konsequenzen und Machtverhältnisse aufzuzeigen. So kann Sprache die Menschen ermächtigen, die gesellschaftlich weiter marginalisiert werden. Und dazu zählen eben auch Menschen mit (zugeschriebenen) psychischen Störungen.

Widerstände bei der Benennung von Diskriminierung

Wenn Diskriminierung benannt wird, können verschiedene Widerstände auftreten. Es ist wichtig, diese Widerstände bei sich selbst zu erkennen, um ihnen entgegen wirken zu können:

  • Kognitive Dissonanz: Menschen haben oft Schwierigkeiten, Diskriminierung zu erkennen, weil es im Widerspruch zu ihrem Selbstbild steht. Gedanken oder auch Aussagen in die Richtung „Aber ich bin doch eine*r der Guten“ sind häufig.
  • Professionelle Fragilität: Besonders z.B. im Gesundheitsbereich kann es schwer sein, Diskriminierung oder mangelnden Schutz anderer davor einzugestehen, da dies oft als Gefährdung des professionellen Selbstverständnisses wahrgenommen wird. Denn wir sind ja da, um Menschen zu helfen - wir würden ihnen doch nie schaden.
  • „Das habe ich nicht gemeint“ / „Das habe ich nicht gewollt“: Häufig wird argumentiert, dass eine Äußerung nicht so gemeint oder nur als Scherz gedacht war, und die Betroffenen sich deswegen nicht so aufregen sollten. Dadurch wird die Intention über die Wirkung gestellt. Da Diskriminierung häufig keine Absicht ist aber eben dennoch wirkt, würden damit Betroffene weiter entmachtet und geschädigt werden. Entsprechend ist die Wirkung der relevante Faktor.
  • Tone Policing: „Wenn du dich so aufregst, rede ich nicht mehr mit dir.“ – „Was ist denn das für ein Tonfall?“ Diese Reaktionen dienen dazu, Menschen, die sich gegen Diskriminierung wehren, zum Schweigen zu bringen. Häufig wird geäußerter Ärger oder Trauer der(zugeschriebene) Störung zugeschrieben. Dadurch wird berechtigter Ärger kleingeredet, problematisiert und die Äußerungen der Betroffenen entwertet.

Solche Widerstände können in der Regel nicht von den diskriminierten Menschen selbst offengelegt werden, da sie auf zu viel Widerstand stoßen würden. Es braucht ein informiertes und klar kommunizierendes Umfeld, dass die Widerstände benennt und die diskriminierten Menschen in Schutz nimmt, wenn diese das wollen. Andernfalls droht, was für diskriminierte Menschen aus marginalisierten Gruppen eine sehr vertraute Erfahrung ist - sie werden selbst rausgeschmissen, weil es leichter für die anderen ist, dafür Ausreden zu finden, als in die ehrliche, schmerzhafte Selbstreflektion zu gehen.

Sanismus im Gesundheitssystem

Diagnosen sind in unserer Gesellschaft auch Machtinstrumente – sie ermöglichen oder verhindern den Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten und Berufen. Dabei sind Diagnosen weder absolute Wahrheiten noch können sie der Komplexität menschlichen Erlebens gerecht werden. Die Macht haben diejenigen, die Diagnosen stellen, insbesondere Ärztinnen und Psychotherapeutinnen. Auch in der Versicherungslandschaft und Klinikverwaltung werden Diagnosen zur Grundlage von Entscheidungen gemacht.

Es ist für Mitarbeitende in verschiedenen Berufsgruppen im Gesundheitsbereich hilfreich, sich mit Sanismus und eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen.

Diskriminierungssensibilität aufbauen

Auch "gute" Menschen können und werden diskriminieren. Nicht, weil wir das wollen - sondern weil wir in Zusammenhängen leben, in die Diskriminierung tief verankert ist. Deswegen ist es wichtig, sich zu sensibilisieren. Ein paar Möglichkeiten hier kurz angerissen:

  • Sprachmuster erkennen und ändern: Vermeiden Sie abwertende Begriffe wie „verrückt“ und reflektieren Sie über Aussagen wie „Der hat halt Depression, den brauchst du gar nicht erst fragen“.
  • Austauschgruppen: Bilden Sie kleine Gruppen, in denen sich die Teilnehmenden miteinander Sprachmuster reflektieren und Alternativen zu diskriminierenden Mustern finden und üben können.
  • Weiterbildung (insbesondere in Gesundheitseinrichtungen): Regelmäßige Schulungen zu Diskriminierung und Sanismus sind essenziell. Sie können Selbstreflexion und Perspektivenwechsel ermöglichen und damit ein besseres gemeinsames Verständnis schaffen.

Bessere Sprache

Generell ist es wichtig, Gruppenzuordnungen nicht negativ zu verwenden. Wir können individuelles Verhalten, das uns stört, ansprechen. Hier ein paar gute nicht-diskriminierende Beispiele:

  • "Denk da bitte nochmal drüber nach."
  • "Ich kann deinen Gedanken gerade nicht folgen."
  • "Ich erlebe dich in der Diskussion als dominant."
  • "Das ist lächerlich."
  • "Das ist Arschloch-Verhalten!"

Insbesondere die letzten beiden Einträge könnten sicherlich je nach Kontext als beleidigend, unfreundlich, unhöflich, dreist, unangenehm, unpassend oder gewaltvoll bewertet werden. Sie sind jedoch nicht diskriminierend. Sie beziehen sich nicht auf historisch-gesellschaftlich abwertende Gruppenzugehörigkeiten.

Es gibt aber Sprache, die Gruppenzugehörigkeiten mit abwertender Bedeutung auflädt. Bei Sanismus betrifft dies andauernde psychische Störungen und verwandte Begriffe, die diese Assoziationen wecken. Diese Begriffe sollten deswegen nicht abwertend oder als Begründung für ausschließendes Verhalten verwendet werden. Die folgenden Begriffe als Beispiele werden immer wieder auch in Alltags-Sprache leider entsprechend verwendet: Verrückt, geisteskrank, gestört, irre, hysterisch, fragil, dumm, dämlich, krank, reif für die Anstalt, narzistisch, depressiv, schizophren, borderline, manipulativ, idiotisch und viele andere. Problematisch sind sie auch, weil sie Menschen treffen, die sich gegen diese Gruppenzuweisung nicht wehren können.

Die Lern- und Reflexionsprozesse, die wir gesellschaftlich bzgl. Sexismus und Rassismus teilweise schon geschafft haben (und weiter brauchen), stehen bei Sanismus noch ganz am Anfang in den meisten Fällen. Das ist mit ein Grund, warum diese Diskriminierung bisher weitgehend "unsichtbar" scheint - wir haben noch nicht gut geübt, sie zu erkennen.

Sie wollen sich mehr mit Sanismus beschäftigen?

Wenn Sie mehr über Sanismus erfahren und aktiv gegen diese Form der Diskriminierung vorgehen möchten, schreiben Sie mir gern. Ich stehe für Vorträge und Workshops zu diesem Thema zur Verfügung. Als Psycholog*in und Psychotherapeut*in in fortgeschrittener Ausbildung sowie selbst Sanismus-erfahren kann ich gemeinsam mit Kolleg*innen aus vielen Perspektiven Anregungen und Unterstützung bieten.

Schreiben Sie mich gern an: kontakt@geoadel.net

Hilfreiche Texte zum Thema

  • Perlin, Michael L. (1992): On Sanism – Eine umfassende Einführung in das Konzept und die Auswirkungen von Sanismus.
  • Poole, J. (2012): Sanism, "Mental Health", and Social Work/Education - A Review and Call to Action – Ein tiefer Einblick in die Intersektionen von Sanismus und sozialer Arbeit.
  • Schütteler, A., & Slotta, M. (2023): Diskriminierungssensibel Beratung und Psychotherapie – Ein Leitfaden für diskriminierungssensible Praxis in Beratung und Therapie.
  • Chamberlin, J. (1979): On our own – Patient-controlled alternatives to the Mental Health System. Ein Blick auf das damalige US-Gesundheitssystem, der die Probleme von Sanismus / Mentalism aus Betroffenenperspektive mit hilfreichen Anregungen verknüpft.

Schlusswort

Sanismus ist eine tief verwurzelte Form der Diskriminierung, die durch bewusste Anstrengungen und gemeinschaftliche Initiativen angegangen werden muss. Nur durch ein tieferes Verständnis und eine umfassende Bekämpfung dieser Vorurteile können wir eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft schaffen.